Buchcover Thüringer Bildungsplan

Religion & Religiöse Bildung

im Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre
Buchcover Thüringer Bildungsplan
Foto: Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport

1. Religiöse Bildung im Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre

Religiös ist, wer sich zu einer Religionsgemeinschaft bekennt (s. ThBP S. 279) 

  • Religionen geben Orientierung in ethischen Problemsituationen (z.B. dem Umgang mit Fremden, der Einstellung zur Selbsttötung oder dem Schutz am Anfang und am Ende des Lebens).
  • Religionen helfen, Kontingenzerfahrungen (z.B. Verarbeitung von Leid, Unrecht, Schicksalsschlägen und Tod) zu bewältigen. Auch für den Umgang mit Gefühlen, das Feiern von besonderen Tagen und das Leben in Gemeinschaften oder für den Anspruch, der Welt einen Sinn zu geben, sind Religionen hilfreich.
  • Religionen helfen, die Welt und das Handeln des Menschen aus einer Distanz heraus zu betrachten. Sie ermöglichen damit eine kritische Beurteilung eines als ungerecht oder unmoralisch empfundenen Zustandes in der Gesellschaft.
  • Religionsgemeinschaften dienen der gemeinschaftlichen Religionsausübung; in der Regel berufen sie sich auf ein Offenbarungserlebnis, besitzen ein (verschriftetes) Glaubensbekenntnis,  einen Schriftenkanon, bestimmte Riten (Gottesdienste, Gebetshaltungen etc.) und Symbole (Davidstern, Kreuz, Halbmond), zentrale Orte der Religionsausübung (Synagoge, Kirche, Moschee etc.).
  • Kriterium: institutionelle Zugehörigkeit
  • Ermöglicht sehr schnell eindeutige Zuordnungen
  • Problem: Lässt sich Religiosität wirklich über das Abfragen von Urkunden/Formalia bestimmen? (Kirchenmitgliedschaft) aber: Selbstzuschreibung

Religiös ist, wer etwas gefunden hat, von dem er Halt und Orientierung erwartet.

  • Fragt danach, welche „Funktion“ Religion im Leben eines Menschen hat („funktionaler Religionsbegriff“)
  • So verstandene Religiosität muss sich nicht notwendigerweise auf einen Gott beziehen: Alles, was dem Menschen hilft, ethische Werte bereitzustellen, besondere emotionale Zustände/Krisen zu bewältigen oder Hoffnung zu spenden wäre demnach als „religiös“ zu beschreiben.
  • Problem: Fremdzuschreibung

  • Als Zivilreligion bezeichnet man die ethischen und moralischen Überzeugungen, die eine Kultur als weitegehend unhinterfragbar teilt. Sie ist in Europa und in den USA weitgehend vom Christentum und von der Aufklärung bestimmt. Sie orientiert sich an Frieden und Vernunft, an den Menschenrechten, an der Gleichheit und Würde der Person und an einer demokratischen und durch Gesetze umschriebenen Grundordnung.
  • Als Religionsanaloga können Phänomene und Praktiken bezeichnet werden, die nicht an Bekenntnisse gebunden sind oder als Zivilreligion wirken. Religionsanaloga erfüllen jedoch die Funktionen von Religion für bestimmte Menschen und Gruppen. Dazu können unterschiedliche Bereiche wie Esoterik, Sport, Wissenschaft, Finanzmärkte und Drogenszenen oder auch Weltanschauungen zählen. (ThBP S. 279)

  • Problem: Alltagsverständnis von „Religion“ wird auf den Kopf gestellt und der Austausch über „Religiosität“ erschwert. Menschen, die von sich aus sagen würden, nicht religiös zu sein, wird dieses Attribut von außen ‚angeheftet‘: Fremdzuschreibung.
  • Chance: Der Austausch über „das, was Halt gibt“, wird erleichtert. Religion geht hier über das Bereitstellen von Bräuchen und ethischen Maßstäben hinaus und es wird möglich, über die „großen Fragen“ ins Gespräch zu kommen – unabhängig davon, ob jemand sicher zu einer bestimmten Religion bekennt oder nicht.

2. Warum religiöse Bildung in Kita und Schule? 

2.1 Rechtliche & pädagogische Begründungen

Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG, KErzG) von 1922; zuletzt novelliert 2009
  • „Über die religiöse Erziehung eines Kindes bestimmt die freie Einigung der Eltern […]“ (§ 1).
  • „[…] Das Kind ist zu hören, wenn es das zehnte Jahr vollendet hat“ (§2.3).
  • „Nach der Vollendung des vierzehnten Lebensjahrs steht dem Kind die Entscheidung darüber zu, zu welchem religiösen Bekenntnis es sich halten will. Hat das Kind das zwölfte Lebensjahr vollendet, so kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden“ (§ 5).
  • „Die vorstehenden Bestimmungen finden auf die Erziehung der Kinder in einer nicht bekenntnismäßigen Weltanschauung entsprechende Anwendung“ (§ 6). (s. Verweis ThBP S. 278)
  • Thüringer Kindertageseinrichtungsgesetz (ThürKitaG, 2005)
     
  • § 1 Begriffsbestimmungen
    „Kindertageseinrichtungen im Sinne dieses Gesetzes sind familienunterstützende Einrichtungen, in denen Kinder tagsüber gebildet, erzogen und betreut werden.“

  • § 6 Ziele und Aufgaben der Kindertageseinrichtungen I
    „In Anerkennung der vorrangigen Verantwortung der Eltern für die Bildung, Erziehung und Betreuung ihrer Kinder haben die Kindertageseinrichtungen einen familienergänzenden Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrag und ermöglichen den Kindern Erfahrungen über den Familienrahmen hinaus.“

  • § 6 Ziele und Aufgaben der Kindertageseinrichtungen II
    „Durch Bildungs- und Erziehungsangebote wird die Gesamtentwicklung der Kinder altersgerecht und entwicklungsspezifisch gefördert. Insbesondere sollen der Erwerb sozialer Kompetenzen, wie Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft und Gemeinschaftsfähigkeit, Toleranz und Akzeptanz gegenüber anderen Menschen, Kulturen und Lebensweisen sowie Kreativität und Fantasie gefördert werden. Grundlage für die gesamte Arbeit ist ein von dem für Kindertageseinrichtungen zuständigen Ministerium erarbeiteter Bildungsplan, der für Kindertageseinrichtungen, für Tagespflege und für Schulen pädagogische Schwerpunkte festlegt und zu einem aufeinander aufbauenden Bildungssystem zusammenführt.“
Gemeinsamer Auftrag für die Thüringer Schulen §2  ThürSchulG (2003)
  • (1) Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule in Thüringen leitet sich ab von den grundlegenden Werten, wie sie im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in der Verfassung des Freistaats Thüringen niedergelegt sind. Die Schule erzieht zur Achtung vor dem menschlichen Leben, zur Verantwortung für die Gemeinschaft und zu einem verantwortlichen Umgang mit der Umwelt und der Natur. Sie pflegt die Verbundenheit mit der Heimat in Thüringen und in Deutschland, fördert die Offenheit gegenüber Europa und weckt das Verantwortungsgefühl für alle Menschen in der Welt. Wesentliche Ziele der Schule sind die Vermittlung von Wissen und Kenntnissen, die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Vorbereitung auf das Berufsleben, die Befähigung zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zur Mitgestaltung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie zum bewussten, selbst bestimmten und kritischen Umgang mit Medien, die Erziehung zur Aufgeschlossenheit für Kultur und Wissenschaft sowie die Achtung vor den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer. Die Schüler lernen, ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten. Dabei werden die Schüler darauf vorbereitet, Aufgaben in Familie, Gesellschaft und Staat zu übernehmen und dazu angehalten, sich im Geiste des Humanismus und der christlichen Nächstenliebe für die Mitmenschen einzusetzen. Die Schule fördert den Entwicklungsprozess der Schüler zur Ausbildung ihrer Individualität, zu Selbstvertrauen und eigenverantwortlichem Handeln. Sie bietet Raum zur Entfaltung von Begabungen sowie für den Ausgleich von Bildungsbenachteiligungen. Die natürlichen Rechte der Eltern und die ihnen obliegenden Pflichten zur Erziehung ihrer Kinder bleiben davon unberührt.

2.2 Kultursoziologische Argumentation

  • „Religiöse Bildung leistet […] einen wichtigen Beitrag zur religiösen Aufklärung. […] Prinzipiell gilt: Nicht glaubende Menschen können religiös gebildet sein, wie auch glaubende Menschen religiös ungebildet sein können.
  • Mangelndes religiöses Verständnis und mangelnde Toleranz können zu Verunsicherungen gegenüber religiösen Erscheinungen in unserer Gesellschaft führen und Voraussetzungen für die Entstehung extremer Einstellungen sein. Hingegen schafft ein fruchtbares Wechselspiel von gewachsener Identität und anzustrebender religiöser Verständigungsfähigkeit die Grundvoraussetzung für das gegenseitige Verständnis und die Gestaltung einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft […].“ (ThBP S. 278f.)

2.3 Anthropologische Argumentation

  • Kinder und Jugendliche „formulieren Fragen, die über die Grenze der eigenen Existenz und der menschlichen Verstehensmöglichkeiten hinausgehen. Sie suchen Antworten auf die letzten Fragen vor einem übersinnlichen, göttlichen und transzendenten Hintergrund.“ (ThBP S. 278)

Die fünf großen Kinderfragen:

  • Wer bin ich und wer darf ich sein?  - Die Frage nach mir selbst
  • Warum musst du sterben?  - Die Frage nach dem Sinn des Ganzen
  • Wo finde ich Schutz und Geborgenheit?  - Die Frage nach dem Unbedingten/nach Gott
  • Warum soll ich andere gerecht behandeln? - Die Frage nach dem Grund ethischen Handelns)
  • Warum glauben manche Kinder an Allah? - Die Frage nach der Religion (der anderen)

3. Ziele religiöser Bildung

  • Religiöse Bildung leistet einen „Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung stärkt das Selbstvertrauen junger Menschen.“
  • Religiöse Bildung „als Beitrag zur Empathie-, Sprach- und Urteilsfähigkeit in religiösen Fragen leistet einen grundlegenden Beitrag zur religiösen Mündigkeit.“
  • Religiöse Bildung „macht Kinder und Jugendliche als Autoren ihrer Entwicklung sprachfähig und entscheidungssicher hinsichtlich der eigenen wie auch fremder Lebensausrichtungen und Glaubensüberzeugungen.“ (ThBP S. 278)

4. Wie gelingt religiöse Bildung? 

  • „Religiöse Bildung erfordert, dass Kinder und Jugendliche mit ihren großen Fragen bei den Erwachsenen Gehör finden und dass ihnen Erwachsene Hilfe anbieten, eigene plausible und verlässliche Antworten zu entwickeln. Daher ist von allen Lernbegleiter_innen zu erwarten, dass sie eine Sensibilität und Offenheit für die religiösen und weltanschaulichen Fragen der Kinder und Jugendlichen entwickeln […].“ (ThBP S. 280f.)
  • Es „spielen die Pädagog_innen eine entscheidende Rolle in der Ko-Konstruktion. Sie können religiöse Lernprozesse unterstützen, wenn sie sich als religionssensible Begleiter_innen der Kinder und Jugendlichen verstehen.“ (ThBP S. 281)
  • „Die Auseinandersetzung mit heiligen Räumen fördert die religiöse Vorstellungskraft und Ausdrucksfähigkeit von Kindern und Jugendlichen.“ (ThBP S. 289)
  • „Wahrnehmung kirchenpädagogischer Angebote, Möglichkeiten zur Kooperation […] mit Vertreter_innen der Religionsgemeinschaften vor Ort […].“ (ThBP S. 289)
  • „Wahrnehmung und Deutung rel. Phänomene in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen“ (ThBP S. 295)
  • „Eröffnung von Dialog- und Partizipationsmöglichkeiten für konfessionell gebundene wie ungebundene Kinder und Jugendliche durch die Religionsgemeinschaften“ (ThBP S. 295)

5. Zusammenfassung

  • „Alle Kinder und Jugendlichen haben einen Anspruch auf religiöse Bildung.“
  • Religiöse Bildung beinhaltet die Aufgabe, zur religiösen Mündigkeit beizutragen:
  • i.S. der Persönlichkeitsentwicklung
  • i.S. des reflektierten Umgangs mit den unterschied-lichen Erscheinungsformen von Religion in unserer Gesellschaft
  • Religiöse Bildung benötigt religionssensible Bildungsräume und Begleiter